asut-Bulletin
Digital Shopping World
Ausgabe
01/2017
Homo Digitalis

Warum fürchten wir uns davor, dass uns die Digitalisierung die Arbeit wegnimmt? Eigentlich könnten wir uns doch darauf freuen, dass uns vernetzte Maschinen, Roboter und künstliche Intelligenzen die Arbeit abnehmen und es uns damit ermöglichen zu leben, um zu schaffen, statt arbeiten zu müssen, um zu leben.

Auch der Blick zurück, sollte uns zuversichtlich stimmen: Die Technologie hat uns viele körperlich ermüdende oder stumpfsinnige Tätigkeiten abgenommen. Vor rund 100 Jahren wurde die Kinderarbeit verboten und durch Ausbildung und Freizeit ersetzt. Hat es den Kindern, der Gesellschaft als Ganzes oder der Wirtschaft geschadet?

Kehren wir die Sache also einmal um und fragen uns vielmehr, für welche unserer drängenden Probleme die Digitalisierung Lösungen bereithalten könnte. Zum Beispiel für den demographischen Wandel, eine der grössten volkswirtschaftlichen Herausforderungen der nächsten Zukunft. Die seit den 80er-Jahren des letzten Jahrhunderts durchs Band weg niedrigen Geburtenraten entziehen dem Arbeitsmarkt in den Industrieländern Millionen von Menschen. Diesen Arbeitskräftemangel wird die Digitalisierung teilweise kompensieren. Eine im März 2016 von PricewaterhouseCoopers (PwC) herausgegebene Studie beispielsweise geht davon aus, dass sie den in Deutschland erwarteten Engpass von 4,2 Millionen Arbeitskräften bis 2030 um die Hälfte verringern wird. Den Rest müssen ein höheres Rentenalter und die Zuwanderung richten.

Schaut man sich die Ergebnisse dieser und anderer Studien zu den Auswirkungen der Digitalisierung auf den Arbeitsmarkt im Detail an, zeigt sich aber auch hier, dass das Bild nicht schwarz-weiss ist, sondern viele Schattierungen aufweist: Rund die Hälfte der heutigen Arbeitsplätze verschwinden, allerdings nicht linear durch alle Bereiche hinweg. Besonders betroffen sind laut PwC Handel (-34%) und Industrie (-22%), gefolgt von Transport und Logistik (-11%), Finanzdienstleistungen (-5%) und der Automobilindustrie (-3%). Dafür enstehen in der ICT-Branche und im öffentlichen Sektor (je +7%) und im Gesundheitsbereich (+11%) neue Stellen.

Alles wie gehabt also? Ein bisschen verlieren, um ein bisschen zu gewinnen, neue Lösungsansätze und neue Herausforderungen, so wie das bisher noch bei allen technologischen Sprüngen der Fall war? Auch das wäre eine zu einfache Optik. Denn die Digitalisierung, die Vernetzung und Automatisierung aller Produktions-, Berufs- und Lebensbereiche, nicht zuletzt mithilfe von intelligenten und lernfähigen Maschinen, schaffen eine grundlegend neue Ausgangslage. Bisher haben die verschiedenen technologischen Sprünge dazu gedient, Muskel- durch Maschinenkraft zu ersetzen und aus Arbeitern Sachbearbeiter zu machen. Digitale Systeme sind nun zunehmend in der Lage, Aufgaben zu übernehmen, die bisher dem menschlichen Intellekt vorbehalten waren. Selbst Experten- und Wissensarbeit, wie sie ein Arzt oder Jurist ausübt, ist vor der Digitalisierung nicht gefeit.  Der IBM-Supercomputer Watson kann schon heute Krankheiten besser diagnostizieren als jeder Arzt und schlaue Bots prüfen in Sekundenbruchteilen Tausende von Vertragsklauseln auf ihre Erfolgswahrscheinlichkeit vor Gericht.

Darum also fürchten wir uns davor, dass uns die Digitalisierung die Arbeit wegnimmt – weil die Maschinen, die wir bauen, zum ersten Mal in der Geschichte der Menschheit auch das übernehmen könnten, von dem wir uns einbildeten, dass nur wir allein dazu fähig seien. Aber welchen Platz nimmt der Mensch ein in einer zunehmend digitalisierten Welt, in der immer mehr Aufgaben immer lernfähigeren Systemen überlassen werden können? Was hebt ihn von der intelligenten Maschine ab? Was ist menschlicher Intellekt noch wert? Müssen wir uns daran gewöhnen, Hand in Hand mit Maschinen zusammenzuarbeiten, werden wir zu prekarisierten «Arbeitsunternehmern», zu zwar selbständigen und eigenverantwortlichen, aber sozial nicht abgesicherten Söldnern auf Plattformen wie Uber oder Upwork?  Oder eher zu müssigen Freizeitern, deren Kaufkraft der Staat mit einem bedingungslosen Einkommen aufrechterhalten muss? Würden unsere Sozialwerke das überhaupt verkraften?

Die Furcht ist verständlich, weil wir nun auf viele Fragen neue Antworten finden müssen. Sie ist unnötig, weil es diese Antworten gibt. In den Schoss fallen werden sie uns aber nicht. Wir werden beispielsweise aktiv dafür sorgen müssen, die durch die Digitalisierung erzielten Produktivitätsgewinne so zu verteilen, dass die Kaufkraft der Menschen erhalten bleibt. Denn es mag in der digitalen Wirtschaft weniger Arbeitskräfte brauchen, sicher aber nicht weniger Konsumenten. In erster Linie müssen wir dafür sorgen, dass wir das Bildungs- und Sozialsystem so flexibel ausgestalten, dass es möglichst vielen Menschen die Möglichkeit bietet, sich in der digitalen Wirtschaft und Gesellschaft erfolgreich zu behaupten und diese mitzugestalten. Dann werden sie sich als Teil des Ganzen sehen und damit als Gewinner auch dieser technologischen Revolution.

Unter dem Jahresmotto «Homo Digitalis» wird asut 2017 daran arbeiten, die Antworten auf die Fragen, mit denen die Digitalisierung den Menschen konfrontiert, aufzuzeigen und zu vertiefen. In der ersten Nummer des asut-Bulletins spüren wir den Auswirkungen der Digitalisierung auf Konsum und Handel nach.

 

 

Peter Grütterasut

Peter Grütter ist der Präsident von asut.

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