asut-Bulletin
Digital Industry
Ausgabe
05/2016
Industrie 4.0 als Vorbild

In der Gesundheitswirtschaft sind modernste digitale Geräte im Einsatz, die den medizinischen Fortschritt vorantreiben und gleichzeitig die Wirtschaftlichkeit gewährleisten sollen. Äusserst bedenklich sind allerdings die vorhandenen Lücken. In vielen hoch entwickelten Industriestaaten zeichnen sich die kommenden Herausforderungen im Zusammenhang mit der absehbaren Überalterung der Bevölkerung sowie dem damit verbundenen Ärztemangel und Kostendruck im Gesundheitssystem heute bereits ab. Hier kann der technische Fortschritt in all seinen Facetten die Kostensteigerung im Gesundheitssystem bremsen, ohne dass Qualitätseinbussen damit einher gehen. Doch bevor diese volkswirtschaftlichen Effizienzpotenziale realisiert werden, müssen Hürden im ökonomischen, juristischen und gesellschaftspolitischen Bereich genommen werden (z. B. hinsichtlich Datenschutz, Vergütungssystem, Bildung oder Netzausbau). In der Gesundheitswirtschaft braucht es deshalb ebenso mutige wie visionäre Initiativen zur weiteren Digitalisierung. Der Blick hinüber zur Industrie kann dabei sicherlich helfen. Unter dem Schlagwort Industrie 4.0 hat die Digitalisierung dort nämlich bereits Fahrt aufgenommen.

Die Digitalisierung schreitet voran, allerdings in den Lebens- und Wirtschaftsbereichen unterschiedlich schnell. So kommen auch in der Gesundheitswirtschaft längst moderne digitale Geräte zum Einsatz. Sie sollen einerseits den medizinischen Fortschritt vorantreiben und andererseits die Wirtschaftlichkeit bei weiter steigendem Kostendruck gewährleisten. Allerdings gibt es selbst in der Gesundheitswirtschaft auch Nischen, an denen die Digitalisierung bislang weitgehend vorbeiging.

Solche Lücken sind schon deshalb bedenklich, weil sich mit der absehbaren Überalterung der Bevölkerung sowie dem damit verbundenen Ärztemangel und Kostendruck im Gesundheitssystem die Herausforderungen in vielen hochentwickelten Industriestaaten bereits heute abzeichnen. Es ist daher unbedingt notwendig, die mit der Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft verbundenen Vorteile auch einzusetzen – von der Diagnostik beim niedergelassenen Arzt über die Therapie im Krankenhaus, die häusliche Pflege, bis hin zur Zulassung neuer Präparate.

Speziell die Telemedizin und der 3D-Druck eröffnen hier auf unterschiedlichen Feldern enorme Effizienzpotenziale. Zum einen können Patienten mittels der modernen Telemedizin nun auch über grosse räumliche Distanzen hinweg den zu ihrem Krankheitsbild passenden Spezialisten unmittelbar konsultieren. Solche Fernkonsultationen machen die Behandlung schon allein deshalb effizienter, weil sie dem Patienten etliche Anreisen und Wartezeiten beim Facharzt ersparen.

Neben dem Verhältnis zwischen Patienten und Arzt eröffnet die Telemedizin auch innerhalb des Ärzte-Verhältnisses selbst deutliche Effizienzpotenziale. So können nun auch die behandelnden Ärzte vor Ort den hochspezialisierten Facharzt unmittelbar einbeziehen. Anders als bislang kann dies jetzt ohne Zeitverzug geschehen, weil der aus der Ferne hinzugezogene Spezialist dabei nämlich in Echtzeit auf jegliche Patienteninformationen zugreifen kann –  genau wie der behandelnde Arzt beim Patienten vor Ort. Dabei dürfte diese Form der Fernkonsultation nur der Beginn einer weitreichenden Entwicklung sein. So ist durchaus denkbar, dass der hinzugezogene Spezialist über die Distanz hinweg auch bei der notwendigen Operation selbst mitwirkt, insbesondere unter Zuhilfenahme von Augmented-Reality-Technologie.

Auch in der Pflege eröffnet die Telemedizin völlig neue Effizienzpotenziale. Konkret könnten mithilfe von Smartphones und Wearables (also mit Sensoren und Aktoren ausgestattete Kleidungsstücke und Accessoires) Patienten nun wesentlich autonomer als bislang leben, ohne deshalb im akuten Notfall auf Soforthilfe verzichten zu müssen. Naheliegend ist beispielsweise, dass die im Breitensport bereits erprobten Smartphone-Apps mit einer weiter ausgebauten Funktionalität frühzeitig selbstständig Hilfe anfordern, sobald die medizinischen Vitaldaten kritisch werden.

Weiterhin eröffnen auch die Entwicklungen beim 3D-Druck interessante Möglichkeiten. So soll dank des 3D-BioPrinting, bei dem organisches Gewebe wie Hautzellen dreidimensional gedruckt wird, schon bald auf die vor der Zulassung von Präparaten üblichen kostenintensiven und ethisch bedenklichen Tierversuche weitgehend verzichtet werden können.

Wie diese vier Beispiele zeigen, kann moderne Technik die medizinische Versorgung verbessern, die Unannehmlichkeiten für Patienten verringern, den Einsatz des medizinischen Personals effizienter gestalten sowie die Zulassungsverfahren vereinfachen. Idealerweise durchbricht die moderne Technik also die bislang schier unvermeidbare Kostensteigerung im Gesundheitssystem, ohne dass damit Qualitätseinbussen bei der Versorgung einhergehen. Dieser Effekt ist angesichts der ungleichen Bevölkerungsverteilung umso wichtiger. So sind die Effizienzpotenziale besonders in den wirtschaftlich schwachen, dünn besiedelten ländlichen Gebieten besonders ausgeprägt.

Doch bevor diese enormen Effizienzpotenziale für die gesamte Volkswirtschaft tatsächlich auch realisiert werden können, müssen Hürden im ökonomischen, juristischen und gesellschaftspolitischen Bereich ausgeräumt werden. So braucht es dringend einen gesellschaftlichen Konsens zum Umgang mit personenbezogenen Daten, der dann auch in einem konsistenten Rechtsrahmen verankert wird und in einem geografisch möglichst grossflächigen Gebiet gilt.

Wie Menschen reagieren, wenn sie die AGB einer App vorlesen

(cdh) – Bessere Heilungschancen für Patienten, individualisierte Therapien, neu durchdachte Spitäler, und nicht zuletzt die Entlastung des Gesundheitssystems durch massgeschneiderte Leistungen und einen effizienteren Ressourceneinsatz. Das alles verspricht die Digitalisierung im Gesundheitsbereich. Doch sie bedeutet auch die Erhebung einer Unmenge von personenbezogenen Daten. Das ist mit vielerlei Bedenken verbunden. Wann sind Menschen bereit, ihre Daten zu teilen? Meist ganz einfach dann, zeigt eine Studie des Vodafone Instituts, wenn sie einen individuellen oder sozialen Mehrwert sehen.

So würden 42 Prozent der Deutschen ihre Gesundheitsdaten anonymisiert zur Verfügung stellen, um einen Beitrag zur medizinischen Forschung zu leisten.

Aber nur 17 Prozent glauben zu wissen, wo und von wem ihre Daten gesammelt werden. Diese (wahrgenommene  und vielfach auch wahre) Intransparenz riskiert am Ende genau dem Prozess der Vernetzung, Reorganisation und Automatisierung des Gesundheitswesen zu schaden, der die eingangs aufgezählten Versprechen – zum Wohle aller – verwirklichen könnte.

 

 

Allein diese Forderungen sind bereits sehr ambitioniert. Denn einerseits dürfen die Grenzen für die Erhebung und Nutzung personenbezogener Daten nicht zu leger definiert sein, damit unbotmässige Eingriffe in Bürgerrechte (speziell in die informationelle Selbstbestimmung) verhindert werden. Andererseits dürfen diese Grenzen aber auch nicht zu eng gezogen werden, damit die wirtschaftlichen Potenziale, die gerade angesichts der demografischen Entwicklung so bitter nötig sind, nicht schon im Keim erstickt werden. Konkret geht es dabei beispielsweise um das Spannungsverhältnis, dass einerseits moderne Analysemethoden zu individuell abgestimmten hocheffizienten Therapien führen können. Andererseits ist der unbefugte Gebrauch solcher Daten aber auch einen wesentlicher Eingriff in fundamentale Bürgerrechte.

Darüber hinaus braucht es dringend nachhaltige Anstrengungen beim Netzausbau. Denn allein leistungsfähige Netze können gewährleisten, dass die für die medizinische Behandlung relevanten Daten schnell und zuverlässig ankommen. Hier geht es also um Fragen der Infrastrukturfinanzierung, aber auch um Fragen des modernen Netzmanagements, speziell der Netzneutralität – ein hochemotional besetztes Thema, bei dem  scheinbar unversöhnliche Interessen aufeinander prallen. Es muss sich also bei diesen allgemeinen politischen Feldern noch einiges bewegen, aber auch bei der Gesundheitswirtschaft selbst. Althergebrachte Vorgaben zur Akzeptanz medizinischer Leistungen müssen revidiert werden, damit die Digitalisierung der Gesundheitswirtschaft auch tatsächlich in Gang kommen kann.

Abschliessend bleibt festzuhalten, dass sich die Gesundheitswirtschaft grundlegend verändern wird. Vornehmlicher Treiber dieser Veränderung wird der demografische Wandel, das vornehmliche Instrument wird der technische Fortschritt in all seinen Facetten sein. Mit dieser grundlegenden Veränderung werden ehemals trennscharfe Grenzen zwischen der in weiten Teilen regulierten Gesundheitswirtschaft und den nicht regulierten Bereichen, wie Fitness, Wellness, Internet und Unterhaltungselektronik, weiter ausbleichen. Neue Wettbewerber mit völlig neuen Angeboten und neuen Geschäftsmodellen werden damit auch in den lukrativen Gesundheitsmarkt drängen. Diese neuen Anbieter werden Qualitäts- und Sicherheitsanforderungen sicherlich anders priorisieren, als es alteingesessene Akteure der Gesundheitswirtschaft gewohnt sind. Beispiele dieser sich heute schon abzeichnenden Entwicklung sind die Smartphone-Apps, speziell aber auch Smart Watches, die von Unternehmen aus dem Internet-, der Unterhaltungselektronik- oder Telekommunikationssegment angeboten werden. Diese Angebote messen Vitaldaten permanent und geben daraufhin Fitness- und Ernährungstipps – was für den sportlichen Gesunden interessant ist, aber auch für den chronisch Kranken.

Angesichts der Dynamik in der Gesundheitswirtschaft müssen sich die Akteure aus Politik, Wirtschaft und Forschung den Fragen zur Digitalisierung dringend stellen. Dies betrifft vornehmlich den Datenschutz, das Vergütungssystem medizinischer Leistungen, die Aus-und Weiterbildung, die Förderlandschaft aber auch den Netzausbau. Denn die sich abzeichnenden demographischen und finanziellen Herausforderungen werden den Gesundheitsbereich in besonderem Masse betreffen.

Stefan HengDuale Hochschule Baden-Württemberg stefan.heng@dhbw-mannheim.de

Stefan Heng ist Professor für Digitale Medien an der Wirtschaftsfakultät der Dualen Hochschule Baden-Württemberg in Mannheim. Neben der Lehre erforscht er die wirtschaftlichen Aspekte der digitalen Transformation; zuletzt speziell die Themen Industrie 4.0, Breitband-Ausbau, Elektromedizin, Augmented Reality und Sharing Economy. Zuvor war er als Senior Economist bei Deutsche Bank Research mit den Fragen der digitalen Transformation betraut.

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