asut-Bulletin
Future of Communication
Ausgabe
01/2022
In der Finanzindustrie

Bereits heute leben wir recht digital – kaufen online ein, wickeln unsere Finanzgeschäfte per E-Banking ab oder teilen Erlebnisse auf den Sozialen Medien. Mit dem Metaversum betreten wir womöglich bald eine kollektiv-immersive virtuelle Welt, in der die Menschen digitale Netzwerke für Unterhaltung, Konsum und Wirtschaft formieren werden. Für die Finanzindustrie ergeben sich daraus viele Chancen.

 

Das «Metaverse» ist keine Erfindung Zuckerbergs. In der Gaming Community tummeln sich Menschen als Avatare in bunten Parallelwelten à la Fortnite, Roblox oder Epic bereits seit längerem, im Fall von Roblox gar mit 164 Mio. aktiven Spielern pro Monat. Zwar konnte sich das in den Nullerjahren gehypte «Second Life» nicht durchsetzen. Doch als Pionier und Anschauungsmaterial für Chancen und Risiken der digitalen Unterhaltungs-, Konsum- und Wirtschaftswelt taugt die von Linden Lab gemanagte 3D-Plattform allemal. Denn verschiedene Ideen zur Monetarisierung virtueller Präsenz konnten so bereits ausprobiert, verworfen oder weiterentwickelt werden. Im Unterschied zu 2003, als der «Linden Dollar» erste Transaktionen von virtueller in reale Währungen ermöglichte und die Plattform eher mit Abstürzen als Höhenflügen von sich reden machte, stehen mittlerweile weit ausgereiftere Technologien bereit. Die Verfügbarkeit von Cloud, Blockchain bzw. Distributed Ledger Technology, VR-Lösungen oder einem sichereren Identity- und Accessmanagement erhöht die Erfolgsaussichten eines solchen Projekts erheblich. Kommt hinzu, dass durch die beschleunigte Digitalisierung seit Corona die Menschen beruflich und privat mit der virtuellen Welt sehr viel selbstverständlicher umgehen.

 

Grosses Potenzial für die Finanzindustrie

Als Finanz-IT-Dienstleister, der Banken und Versicherern die genannten Technologielösungen bereitstellt und sie betreibt, wissen wir um deren Leistungsfähigkeit und sehen das Potenzial der virtuellen 3D-Welt für die Finanzindustrie. Für sie kann das Metaverse in verschiedener Hinsicht sehr bedeutsam werden. Zwar ist es noch ein weiter Weg zu kommerzieller Relevanz, wie er zumeist gemäss dem Gartner-Hypecycle über den Gipfel der Erwartungen ins Tal der Enttäuschungen kippt, bevor er den Pfad der Erleuchtung erreicht. Doch ist abschätzbar, dass wir den Trend wieder einmal kurzfristig über- und langfristig unterschätzen.

Anbieter virtueller Transaktionsflüsse

Menschen jeglichen Alters, die sich in virtuellen Communities begegnen, können – und wollen – dort auch angesprochen werden. Banken und Versicherer sollten nicht den Fehler machen, sich auf ihrer bestehenden Kundenschnittstelle auszuruhen, bis Fin-/InsurTechs oder Neobanken ihnen den Rang mit Innovation ablaufen. Was heute noch Proofs of Concept in der analogen Welt sind, können morgen ko-kreative Produkte und Services sein, die gemeinsam online entwickelt und in der virtuellen Welt getestet werden. Bereits bieten grosse Mode- und Sportbekleidungsketten auf diesen Plattformen ihre Fashionprodukte für die Avatars an und generieren Umsätze. Es entstehen neue Geschäftsmodelle, die zu Finanztransaktionen führen und somit eine Relevanz für die bestehende Finanzbranche haben.

 

Foto: piqsels.com

Positionierung sowie Marketing- und Interaktionskanal

War der «Linden Dollar» noch mühsam, unsicher und unreguliert, so sind Blockchain und DLT einfacher, transparenter und fälschungsfrei. Die Nutzerinnen und Nutzer auf den Metaversum-Plattformen werden funktionierende Wirtschaftssysteme erwarten, in denen sie Geld ausgeben oder verdienen können. Wenn immer mehr Leute das Metaversum als zusätzlichen Arbeits- und Freizeitraum betrachten, wird es von Skaleneffekten profitieren. Finanzdienstleister sind prädestiniert dafür, die realen Bedürfnisse digitaler Avatare auch in der Online-Welt zu verstehen und zu erfüllen. Ihnen stellt sich aber die Frage, wie sie damit neue Geschäftsmodelle entwickeln und ihren Anteil an der Wertschöpfung geltend machen können. Dafür müssen sie in einem ersten Schritt «real» in der virtuellen Welt existieren. Experimente gibt es bereits: Erste koreanische Banken ermöglichen es ihren Kunden, über virtuelle Umgebungen online auf Bankdienstleistungen zuzugreifen wie in der realen Welt. Eine weitere Bank hat sogar eine virtuelle «Finanzstadt» geschaffen, in deren Geschäftszentren sie eine virtuelle Filiale eingerichtet hat, wo sich die Kunden mit ihren Avataren bewegen und sich von ihren Bankberatern per Videochat über Finanzprodukte und -dienstleistungen beraten lassen. Das Programm ermöglicht es dem Bankberater, Links mit weiteren Informationen zu den Wünschen des Kunden zu posten. Ein anderes Szenario sind Telearbeitsplattformen, in denen sich die Bank-Mitarbeitenden in den virtuellen Räumen für Meetings und Schulungen per Avatar zusammenfinden.

Dem Kunden wieder näher rücken

Im Zeitalter von E-Business wurde es anspruchsvoller, eine Kundenbeziehung aufzubauen. Am Schalter im Dorf war das einfacher: Ein kurzer Schwatz und man wusste, dass die Tochter des Kunden ein Haus kaufen (finanzieren) möchte. Hier bietet Metaverse grosse Chancen, diese Nähe zurückzuerobern, indem man von Avatar zu Avatar über Video & Co. miteinander plauscht.
In Zukunft kann so ein komplett parallel existierendes digitales Wirtschaftssystem entstehen, für das die Werkzeuge in der Bündelung von Technologien wie KI, Blockchain, Smart Contracts, DAOs und Automatisierung bereits existieren. Mit dem Open-Banking-Ansatz bewegen wir uns heute schon in die Richtung eines «Internet of Money», in dem Finanz-, Daten- und Warenströme zunehmend miteinander verschmelzen. Das Metaversum ist eine neue, spannende Facette in einem sich ohnehin vollziehenden Trend, dem sich die Finanzindustrie stellen muss.

Gregor Stücheli

Gregor Stücheli ist Verwaltungsratspräsident Inventx AG, der schweizerische IT-Partner für führende Finanz- und Versicherungsdienstleister.

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