asut-Bulletin
Mobilität: Unterwegs in die Zukunft
Ausgabe
04/2019
Wir müssen Mobilität als Gesamtsystem betrachten

Smart, sicher, effizient, überall zuverlässig verfügbar und sauber statt Dauerstau zu Stosszeiten, Gedrängel und chronischer Parkplatzmangel: Für Andreas Kronawitter wird die Mobilität der Zukunft nicht mit Beton, sondern mithilfe der ICT gebaut.

asut: Bei Innovationen im Bereich Mobilität nimmt die Schweiz eine internationale Spitzenposition ein. Ist dieser Ruf verdient?

Andreas Kronawitter: Ja und nein. Die Schweiz ist mit ihrem direktdemokratischen System oft entweder zu früh oder zu spät dran. Das ist auch beim ÖV so: Während andere Länder ihr Eisenbahnetz schon früh vereinheitlicht haben, blieb bei uns mit staatlichen, halbstaatlichen und privaten – aber mehrheitlich meist in öffentlicher Hand befindlichen – Bahnen auf der Schiene immer ein gewisser Wettbewerb bestehen. Das hat nicht zuletzt dazu geführt, dass sich die Schiene bei uns gegenüber der Konkurrenz der Strasse besser behaupten konnte. Eine weitere Schweizer Eigenheit ist der Taktfahrplan, der von der Bahn über das Postauto bis zur Seilbahn verschiedenste Verkehrsträger integriert, sodass ein landesweit abgestimmtes Netzwerk bis ins hinterste Tal zur Verfügung steht. Darin ist die Schweiz vorbildlich. Der Nachteil ist, dass unser System mit hohen Kosten verbunden ist, langsam an die Grenzen seiner Kapazität stösst und nicht alle Regionen des Landes denselben Servicelevel geniessen. Gleichzeitig ist es für die Nutzer aber nach wie vor so komfortabel, dass die Veränderungsbereitschaft nicht sehr ausgeprägt ist.

Was sind die Eigenheiten des heutigen Schweizer Transportsystems? 

Grundsätzlich ist der Bedarf nach Mobilität in einer Wissensgesellschaft mit einer «brummenden» Volkswirtschaft wie der Schweiz natürlich hoch. Dazu kommen in einem wohlhabenden Land mit hoher Lebenserwartung auch noch vielseitige Freizeitaktivitäten. Das alles führt zu einer weiteren Zunahme der Mobilität und zu Staus und Überlastung zu Stosszeiten. Dazu kommt die Geographie des Landes: In der Stadt ist das ÖV-Netz sehr dicht und wird entsprechend genutzt. In der Vorstadt und auf dem Land hingegen sind viele Leute vom motorisierten Individualverkehr abhängig, sprich: meist vom Auto. Insgesamt macht diese Mobilitätsform bei uns denn auch noch immer mehr als 70 Prozent des Gesamtverkehrsvolumens aus.

Anderswo ist man in Sachen innovative Mobilitätsansätze also weiter?

In Nordeuropa und in den Niederlanden finden sich viele Pioniere: So hat etwa Helsinki Pionierarbeit geleistet bei der Betrachtung der Mobilität als Dienstleistung (MaaS – Mobility as a Service). Dies führt dazu, dass Nutzerinnen und Nutzer bald gar keinen Anlass mehr dazu haben, ein eigenes Auto zu besitzen, weil es bei weitem bequemer und vorteilhafter ist, sich mit den öffentlichen Verkehrsmittel im Kombination mit zusätzlichen Angeboten fortzubewegen. Die Stadt Hamburg hat ihrerseits die Ambition, bis zum Weltkongress für intelligente Verkehrssysteme und -services (ITS) im Jahr 2021 zur weltweiten «Modellstadt für smarte Mobilität» zu werden.

Lassen sich solche Innovationen auch auf die Schweiz anwenden?

Neue Konzepte müssen sicher zuerst getestet und den spezifischen Schweizer Gegebenheiten angepasst werden. Es geht darum, zu schauen, wie wir es hinkriegen, das Gesamtmobilitätssystem möglichst optimal auszulasten. Im Innolab Smart Mobility, einer Non-Profit-Organisation mit dem Ziel, ein Innovations-Ökosystem für Mobilität für die Schweiz zu entwickeln, tun wir genau das.

Die heutigen Engpässe im Verkehrssystem ­– Stau auf den Strassen und überfüllte Züge und Busse – sind weniger auf ein Problem der mangelnden Kapazität zurückzuführen als die Auslastung. Beim Bahnnetz beispielsweise beträgt diese weniger als 30 Prozent. Der Ausbau der Bahninfrastrukturen oder die Beschaffung von neuem Rollmaterial bringen hier also nichts. Vielversprechender scheint der Ansatz, die Kapazität der vorhandenen Infrastruktur mithilfe von intelligenten IT-Systemen zu erhöhen, also dafür zu sorgen, dass sich die verschiedenen Verkehrsträger möglichst optimal ergänzen und der ÖV gut ausgelastet ist. Das Gleiche gilt auch für den Bau von neuen Strassen: Dafür fehlt in der Schweiz erstens langsam der Platz, zweitens sind Bau und Unterhalt mit enormen Kosten verbunden und der ganze Prozess von der Planung bis zur Fertigstellung nimmt in einem direktdemokratischen Land auch sehr viel Zeit in Anspruch. Vielversprechender ist es auch hier, durch intelligente Verkehrsleitsysteme einen möglichst optimalen «Durchfluss» zu erreichen und die weniger effizienten Verkehrsträger durch effizientere zu ersetzen. Die grösste Wirkung würde man allerdings erreichen, wenn nicht alle Menschen zur gleichen Zeit das Verkehrssystem nutzen wollten. Die Mobilität muss zusammen mit ihrem Zweck betrachtet werden. Hier liegen auch Möglichkeiten für neue Geschäftsmodelle mit kombinierten Services.

Auslastung des öffentlichen (hellblau) und des motorisierten Verkehrs (dunkelblau) am Beispiel von Zug.

 

 

Die Lösung ist also nicht mehr Beton, sondern mehr Intelligenz?

Die technische Entwicklung hat neue Mobilitätsangebote ermöglicht, die Mobilität als ein Gesamtsystem begreifen, in dem alle Teile – Strasse, Schiene, Bus und Tram usw. – möglichst gut zusammenspielen sollen. Vor der Digitalisierung gab es zwei getrennte Welten in der Mobilität: Auf der einen Seite den stark regulierten und angebotsorientierten öffentlichen Verkehr, an Fahrpläne und fixe Haltestellen gebunden. Und auf der anderen Seite die selbstorganisierte «Überall-und-jederzeit-Welt» des individuellen Verkehrs, zu dem Autos, Motorräder sowie der «Langsamverkehr» der Fussgänger und Velofahrer gehören. Heute kommen neue Spielarten der Mobilität dazu und verwischen die Grenzen: Sharing- und Pooling-Modele, E-Mobilität und Rufbussysteme, das heisst «nachfrageorientierte» Modelle, die sich nach den Bedürfnissen der Nutzerinnen und Nutzer richten. Insbesondere in vom ÖV weniger gut erschlossenen ländlichen Gebieten und Randgebieten, finden solche On-demand-Angebote wie beispielsweise Kleinbusse, die per App oder Telefon angefordert werden können, Anklang. Mit «mybuxi» («meinem BUs taXI»), einem aus dem Innolab Smart Mobility entstandenen Projekt, testen wir das gerade.

Stehen solche On-demand-Services nicht in Konkurrenz zum ÖV?

Nein, sie ergänzen ihn eher. In Herzogenbuchsee, wo wir mit mybuxi seit April 2019 unterwegs sind, beobachten wir eine «Zubringerfunktion» zur Bahn und den regionalen Buslinien. In dünner besiedelten Gebieten wirken diese gebietsorientierten On-demand- Services sozusagen als «Kompressor» für den ÖV – sie füllen die grösseren Fahrzeuge. So können wir eine Alternative zum Privatauto auch im ländlichen Raum schaffen, in dem immerhin etwa 50 Prozent der Schweizer leben.

Rufbusse gibt es schon länger in der Schweiz – aber wirklich durchgesetzt haben sie sich bisher noch nicht. Woran liegt das?

Die Technik macht es möglich – die alten Rufbussysteme wie Publicar mussten einige Stunden im Voraus bestellt werden und ein Mensch musste den Auftrag erfassen und planen. Das passiert heute nach einer Bestellung über die App vollautomatisch im Hintergrundsystem, das den Fahrern dann ihre Aufträge zuschickt. Das geht in Sekundenschnelle und die Nutzerinnen warten nur wenige Minuten, bis sie abgeholt werden.

Der nächste Schritt ist, dass «Bedarfsangebote» mit weiteren neuen Mobilitätsservices mit den bestehenden Angeboten – vom ÖV bis zu Taxis und Mietwagen – kombiniert werden können. Dazu braucht es eine «intermodale» Verkehrsplattform, mit der die Nutzenden sich darüber informieren können, wie und mit welcher Kombination verschiedener Verkehrsmittel sie am besten von A nach B kommen. Auch ihr Ticket sollten sie über diese gleiche Plattform reservieren und, wenn möglich automatisch, bezahlen können. Und schliesslich soll sie die gleiche Quelle auch darüber informieren können, wo Parkplätze frei sind und wo es auf der Strasse staut. Eine solche umfassende Mobility-as-a-Service-Plattform gibt es heute noch nicht. Die grosse Diskussion, die zurzeit auch in der Schweiz läuft, dreht sich um die Frage, wer eine solche Plattform betreiben sollte: Privatunternehmen oder der Staat? Und ob es eine nationale oder eine weltweite Lösung sein wird. Der Plattformbetreiber hat eine grosse Macht gegenüber den Leistungserbringern – das kann man heute bei der Diskussion um booking.com und den Hotelbetreibern sehen. Es wird schwer vorstellbar sein, dass die ÖV-Unternehmen einem Plattformbetreiber aus der Automobilindustrie vertrauen und umgekehrt. Ein Plattformbetreiber wird nicht gleichzeitig eigene Mobilitätsleistungen erbringen können, wenn er von anderen Leistungsanbietern akzeptiert werden soll.

Eines hingegen ist klar: Eine solche Plattform ist notwendig. Denn solange jedes neue Mobilitätsangebot einen eigenen Kanal voraussetzt – sprich: eine eigene App – oder erst ein oder, je nach Fahrtstrecke, verschiedene Fahrausweise gekauft werden müssen, bleibt der Individualverkehr für viele die bequemere Alternative. Umfragen zeigen das auch ganz klar: Für die ÖV-Nutzenden stehen «Einfachheit» und «Schnelligkeit» an erster Stelle, während «zum besten Preis reisen» erst auf dem dritten Platz rangiert. Komplizierte Ticketing-Systeme und kaum zu bedienende Billetautomaten bedeuten einen Aufwand, den die meisten Menschen scheuen. Dann nehmen sie doch lieber weiterhin das Auto.

Greta, Klimastreiks, Flugscham... allmählich ändert sich unser Verhältnis der Mobilität gegenüber...

Das stimmt, die Einstellungen ändern sich. Heute ist es vielen jungen Leuten nicht mehr so wichtig wie den vorangehenden Generationen, ein Fahrzeug zu besitzen, um damit Status und Unabhängigkeit zu markieren. Anstelle dieses emotionalen ist ein sehr viel pragmatischerer Zugang zur Mobilität getreten: Was zählt ist heute, dass ich meine Mobilitätsbedürfnisse erfüllen kann: wann und wo immer und erst noch möglichst bequem. Insbesondere in Städten mit einem guten ÖV-Angebot ist der Wunsch, ein Auto zu besitzen, deshalb inzwischen immer kleiner – diesen Aufwand delegiert man gerne an Dritte. Und auf dem Land, wo der Linienbus vielleicht nur einmal pro Stunde fährt, können Mobility-on-demand-Angebote diesem neuen Zugang zur Mobilität entgegenkommen.

Was kann der Gesetzgeber zu einer zukunftsfähigen Mobilität beitragen?

Die Entwicklung von intermodalen Mobilitätsservices braucht ein Innovationsklima, in dem kleine Unternehmen und Start-ups reüssieren können. Dafür braucht es neben dem rechtlichen Rahmen eine technische Standardisierung und idealerweise ein Basissystem mit einheitlichen Schnittstellen, das den Austausch mit ausländischen Plattformen über einen nationalen Zugangspunkt ermöglicht. Idealerweise sollte der Staat als «Ermöglicher» auftreten, der gute Initiativen finanziell unterstützt und zentrale Grundleistungen über Leistungsvereinbarungen zur Verfügung stellt. Eine solche Grundleistung sind beispielsweise geografische Daten, aber auch die Einbindung von kleinen Organisationen wie einem lokalen Fahrradverleih. Wichtig ist auch der Datenschutz: In einem als Gesamtheit verstandenen Mobilitätssystem werden unzählige Daten über Verkehrsteilenehmer und Verkehrsträger erfasst und ausgewertet – u.a. mithilfe von Künstlicher Intelligenz und Maschinenlernen. Hier muss darauf geachtet werden, dass einheimische Unternehmen den gleichen Zugriff auf diese Daten erhalten wie die grossen  internationalen Datenmultis. Und gleichzeitig muss der berechtigte Anspruch der Bürger auf den Schutz personenbezogener Daten gewahrt bleiben.

Andreas Kronawitter

Nach mehr als 17 Jahren im öffentlichen Verkehr bei SBB und BLS, engagiert sich der Physiker Andreas Kronawitter heute als Geschäftsführer von Kronawitter Innovation und its.ch, sowie als Mitbegründer des Innolab Smart Mobility für die Entwicklung und Umsetzung von zukunftsfähigen Mobilitätslösungen. Eine davon ist «mybuxi», ein Bedarfsbusangebot für den ländlichen Raum.

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