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Ausgabe
03/2019
Die Frauen könnten – aber wir machen es ihnen zu leicht, nicht zu wollen

Was sagt die Forschung dazu, dass Frauen in den Bereichen Mathematik, Informatik, Naturwissenschaft und Technik (MINT) noch immer untervertreten sind? Ein Gespräch mit Elsbeth Stern, Intelligenzforscherin und ETH-Professorin.

asut: Frauen gelten allgemein als weniger technikaffin als Männer. Lässt sich das tatsächlich nachweisen?

Elsbeth Stern: Die Zahlen zeigen jedenfalls, dass es in diesem Bereich weniger Frauen gibt und zwar auf allen Ebenen: Das fängt bei den Wahlfächern in der Schule an, setzt sich bei der Wahl der Studienfächer und schliesslich bei der Berufswahl fort. Wenn es Frauen freisteht, dann ist die Chance grösser, dass sie sich eher für etwas Nicht-Technisches oder Nicht-Naturwissenschaftliches entscheiden. Und tun sie es doch, dann brechen sie ihr Studium häufiger ab als Männer oder steigen aus dem Beruf häufiger wieder aus.

Woher kommt das?

Die Gründe sind vielfältig und haben ebenso mit Erziehung, dem gesellschaftlichen Umfeld wie mit der Schuldbildung zu tun. Zudem sind die Zusammenhänge komplex.  So hat vor Kurzen eine sehr solide und durch eine Vielzahl von Daten gestützte Studie gezeigt, dass der geringere Anteil von Frauen im technischen Bereich nicht etwa damit erklärbar sind, dass es uns noch immer nicht gelungen ist, zwischen Frauen und Männern Gleichheit herzustellen. Stattdessen ist es gerade andersherum: Im Ländervergleich zeigt sich eine fast perfekte negative Korrelation zwischen dem Grad der Gleichberechtigung und der Anzahl Frauen in technischen Berufen. Mit anderen Worten: In emanzipierten Ländern, etwa in Skandinavien, findet man den kleinsten Frauenanteil in Technik und Naturwissenschaften. Am höchsten ist er stattdessen in Ländern wie Saudi-Arabien, die ganz bewusst keine Gleichstellungspolitik verfolgen.

Interessant.

Sehr. Zuerst einmal, weil dieses sogenannte «Gender-Equality-Paradox» zeigt, dass Frauen im technischen Bereich durchaus erfolgreich sein können, wenn sie es wollen.

Und warum wollen sie es ausgerechnet dort, wo sie stärker unterdrückt sind?

Ein Grund könnte sein, dass sie sich mit der Wahl für einen technischen Beruf ein Stückchen relative Unabhängigkeit erkaufen können: Er garantiert finanzielle Sicherheit und soziales Prestige und zudem eine gewisse intellektuelle Freiheit. In solchen Ländern sind geistes- und sozialwissenschaftliche Fächer oft keine Alternative für Frauen, weil sie ideologisch stark aufgeladen sind. Nehmen wir den alten Ostblock. Angela Merkel beispielsweise sagt, dass anderes sie durchaus auch interessiert hätte. Aber sie hat sich für Physik entschieden, weil sie wusste, dass die Forschungsfreiheit in den Naturwissenschaften respektiert wurde und sie als Physikerin in der DDR relativ ungestört würde arbeiten können.

In «emanzipierteren Ländern» hingegen ziehen diese Argumente nicht?

Nein, und das führt dann dazu, dass Frauen sich eher für Fächern wie Psychologie oder Sprachen entscheiden. Dies wiederum hat wohl weniger mit Neigung zu tun, als damit, dass die Lehrer in den naturwissenschaftlichen Fächern oft schlicht nicht gut genug sind, um die Mädchen anzusprechen. Zudem hängt vielen Berufen im technischen Bereich und insbesondere in der ICT ein Image an, das Frauen eher abstösst. Der Punkt ist: In freiheitlichen Gesellschaften haben intelligente Frauen heute viele Möglichkeiten. Das lässt sich in Hochbegabtenstudien nachweisen: Selbst Frauen, die in Mathematik oder Physik sehr stark sind, entscheiden sich dort später doch lieber für einen anderen, weniger von Männern dominierten Bereich.

Sie sagen: Frauen können, wenn sie wollen. Gibt es die viel zitierte «typisch» weibliche Intelligenz – ein besonderes Feeling für Zwischenmenschliches und für Sprachen – denn gar nicht?

Es gibt keine kognitiven Gründe, die das unterschiedliche Interesse für Technik und Naturwissenschaften erklären würden. Mädchen sind weder «dümmer» als Jungs, noch fehlt es ihnen an irgendwelchen «speziellen Fähigkeiten» für das Verständnis von Naturwissenschaften, Technik oder Informatik. Kognitive Unterschiede zwischen Männern und Frauen zeigen sich einzig im Bereich der Höchstbegabten, wo die Männer etwas stärker vertreten sind. Aber auch in diesem Spitzenbereich haben wir noch 30 Prozent Frauen. Das heisst, dass wir im technischen Bereich locker auf einen guten Drittel Frauen kommen könnten. Heute sind es magere 10 bis maximal 20 Prozent.

Sie haben den Schulunterricht angesprochen: Wie müsste er denn sein, um das Interesse der Mädchen für Naturwissenschaften und Technik zu wecken?

Guter Unterricht sollte nicht vorwiegend auf Formel und Regeln abzielen, sondern konzeptuelles Verständnis fördern. Er sollte mit Begriffen und Konzepten arbeiten und herausfordernde, aber lösbare Probleme stellen, deren Sinn nachvollziehbar ist. Wenn sich ein Bezug zum Alltag der Schülerinnen und Schüler herstellen lässt, sollte dies genutzt werden. Er muss vermitteln, dass und wie Naturwissenschaften dabei helfen können, die Welt zu verstehen – und vielleicht sogar zu verbessern und die grossen Herausforderungen unserer Zeit – Stichwort: Klimawandel und Umweltprobleme – zu lösen. Das spricht insbesondere Mädchen an und motiviert sie. Denn Frauen haben oft einen breiteren Fokus und einen mehr anwendungsorientierten Zugang zu MINT-Fächern: Ingenieurwissenschaften sollten ihnen deshalb besonders liegen, sofern es nicht nur um grössere Automotoren geht.   

Doch statt zu motivieren und zu fördern, betoniert der naturwissenschaftliche Unterricht heute die Geschlechtsunterschiede oft noch weiter. Zum einen, weil er zum ungünstigsten Zeitpunkt einsetzt. Physik und Chemie werden heute erst unterrichtet, wenn die Schüler in die Pubertät kommen. Da ist vieles im Umbruch. Das Interesse am Lernen tritt in den Hintergrund, Jungs und Mädchen sind vollauf damit beschäftigt, ihre Geschlechtsidentität zu finden und zu stärken. Sie sind verunsichert und kaum bereit, sich gerade jetzt gegen soziale Erwartungen aufzulehnen. Und ausgerechnet da, viel zu früh, müssen sie sich festlegen und ihre Schwerpunktfächer wählen. Da geht viel Potenzial verloren.

Wo sollte man ansetzen, um das zu verändern?

Genauso selbstverständlich wie es ist, lesen und schreiben zu lernen, müssten auch in den Naturwissenschaften die Grundlagen vermittelt werden, bevor die Geschlechtsidentität herausgebildet ist. Wir haben mit einer breit angelegten Langzeitstudie mit bisher mehr als 300 Schweizer Primarschulklassen zeigen können, dass es bei Zweit- bis Viertklässlern im Physikunterricht keine Geschlechtsunterschiede bei der Lernfähigkeit gibt. Wenn der Unterricht stärker mit Konzepten arbeitet, dann spricht er Mädchen genauso an. Wir hoffen, dass sich dieser Effekt hält. 

Doch so wie die Schule heute organisiert ist, macht man es den Mädchen insgesamt zu leicht, sich von den Naturwissenschaften zu verabschieden. Es wird akzeptiert, dass sie in andern Fächern gut sind, Physik und Mathematik aber einfach abschreiben. Das wird dann gerne mit der einseitigen Begabung erklärt, die man Jungs und Mädchen zuschreibt und damit Rollenstereotype weiter zementiert: Mädchen sind eben stark in Sprachen, Jungs in Mathematik. Das ist Unsinn: Eine einseitige sprachliche oder mathematische Begabung, das gibt es nicht. Es gibt keinen richtig guten Mathematiker, der sich nicht auch sprachlich gut ausdrücken könnte, und es gibt keine intelligente Frau, die nicht das Zeug zum mathematischen Denken hätte. Wir sollten strenger sein und die Matur nur denjenigen Schülerinnen und Schülern geben, die in allen Fächern die erforderlichen Standards erfüllen. Dann hätten wir das ganze MINT-Problem nämlich gar nicht.

Ist es denn so schlimm, wenn Frauen im MINT-Bereich untervertreten sind?

Es sind ja nicht nur die Frauen, die sich mit MINT-Fächern schwertun. Es gibt hier ein ganz allgemeines Nachwuchsproblem. Es muss uns gelingen, aufzuzeigen, dass naturwissenschaftliches Wissen ein Stück weit zum Weltverständnis gehört. Auch ein Psychologe braucht Statistik und es ist sinnvoll, wenn ihm bereits die Schule dieses Wissen vermittelt. Zudem ist es nicht gut, wenn in einer stark von der Technik geprägten Welt viele kaum mehr als eine Grundidee davon haben, wie sie funktioniert.

Auch an der ETH sind Frauen untervertreten. Wie gehen Sie das Problem an?

Wir haben zwei Ansätze: Auf der einen Seite zeigen wir auf, was man in einer technisch orientierten Welt mit Naturwissenschaften alles machen kann ­– und wie weit das über die eigentlichen Studienfächer hinausgeht. Und auf der andern veranschaulichen wir von Anfang an, dass das ein anspruchsvoller Weg ist, der viel Engagement voraussetzt.

 

Elsbeth Stern

Prof. Dr. Elsbeth Stern ist ordentliche Professorin für empirische Lehr- und Lernforschung und Leiterin des Instituts für Verhaltensforschung am D-GESS (Departement für Geistes-, Sozial- und Staatswissenschaften) der ETH Zürich. Dort ist sie verantwortlich für den pädagogischen Teil der Ausbildung angehender Gymnasiallehrpersonen. Als kognitive Psychologin beschäftigt sie sich seit mehr als 30 Jahren mit dem Lernen von Wissenschaften und Mathematik.

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