asut-Bulletin
Digital Health
Ausgabe
06/2018
Gesünder, glücklicher und länger leben – wenn wir unsere Daten teilen

asut: Sie haben ein Buch geschrieben («Sick no more»), in dem Sie ein sehr optimistisches Bild des digitalisierten Gesundheitswesens der Zukunft zeichnen. Warum sollte immer mehr Technologie zu einem menschlicheren System führen?

Koen Kas: Weil wir momentan kein Gesundheitssystem, sondern ein Krankheitssystem haben, das auf der Prämisse aufbaut, dass wir Menschen erst behandeln, wenn sie krank werden. Wer beispielsweise die Diagnose Diabetes erhält, bei hat die Krankheit bereits 15 Jahre zuvor angefangen, ohne dass die Person dies bemerkt hätte. Die Frage, die wir also stellen sollten, ist: Was können wir in den 15 Jahren davor tun, welche Art von Verhaltensänderungen sind nötig, damit vermieden werden kann, dass die Krankheit ausbricht?

Und dabei kommt die Digitalisierung ins Spiel?

Das Verhalten der Menschen zu ändern, ist etwas vom Schwierigsten überhaupt. Intelligente Analysetools können lernen, was uns fit hält und glücklich macht. Und diese können dazu eingesetzt werden, den Menschen Erfahrungen zu ermöglichen, die Spass machen, und sie gleichzeitig zu belohnen, wenn sie so viel wie möglich über sich selbst wissen, um gesund zu bleiben. Die Technologie an sich verschwindet im Hintergrund, während im Vordergrund die Ärzte und Gesundheitsdienstleister menschlicher werden, weil sie zum ersten Mal dafür sorgen können, dass Sie gesund bleiben, anstatt Sie zu behandeln, wenn Sie bereits krank sind. Um Ihre Frage zu beantworten: Ja, ein digitalisiertes Gesundheitssystem wird menschlicher sein.


Und wird also auf viel Technologie aufbauen, die im Hintergrund abläuft?

Wenn ich ein Paket von Bern nach Lyon schicke, kann ich es alle paar Minuten aufspüren und weiss genau, wo es sich befindet. Ein Patient hingegen ist ca. 8‘750 Stunden pro Jahr nicht mit dem Gesundheitssystem verbunden. Er ist mit sich alleine. Somit ist ein durchschnittliches Paket besser überwacht als der durchschnittliche Patient. Das muss sich ändern und die digitale Technologie spielt eine entscheidende Rolle, um näher an unsere Patienten zu gelangen. Sensoren und Wearables (um, auf und bald auch in unserem Körper) werden unseren Zustand im Alltag konstant überwachen. Diese sammeln Daten über verschiedene Indikatoren – vom Herzschlag und der körperlichen Aktivität über Essgewohnheiten bis zum Posten von Bildern mit rötlichem und orangenem Farbton oder mit überwiegend blauen und grauen Schattierungen auf Social-Media-Plattformen. Änderungen in diesen Indikatoren oder in Verhaltensmustern können Ihren Arzt auf ein drohendes Gesundheitsproblem aufmerksam machen. Auf diese Weise können wir Krankheiten antizipieren und vermeiden. Wir werden von einem reaktiven Krankheitswesen zu einem proaktiven Gesundheitswesen wechseln.

Wenn wir von einem digitalen Gesundheitswesen sprechen, geht es meistens um Dinge wie elektronische Gesundheitsakten oder mit anderen Worten darum, das Gesundheitswesen zu digitalisieren, indem analoge Silos aufgebrochen werden und ein rascher Zugang zu Patientenaufzeichnungen aus mehreren Quellen für eine besser koordinierte, effizientere Behandlung ermöglicht wird.

Dies sind nötige Änderungen, die erfolgen müssen und riesige Vorteile für den Gesundheitssektor mit sich bringen werden. Aber dieser Ansatz ist ein Erbe der Vergangenheit, weil es dabei immer noch um Krankheitsdaten geht, während mein Leben mehrheitlich aus Gesundheitsdaten besteht. Damit ich gesund bleibe, muss man herausfinden, wie ich mein Leben im Alltag lebe. Man muss mich motivieren, damit ich mich jede Woche 150 Minuten sportlich betätige, denn, wie Sie wissen, ist es das, was ich tun muss, damit ich nicht frühzeitig sterbe. Durch Überwachung meiner Umgebung kann man vielleicht verstehen, weshalb ich nicht so viel trainiere, wie ich sollte, weil die Strassenbeleuchtung vor meinem Haus kaputt ist und ich Angst habe, nach draussen zu gehen. Diese Informationen werden an die Gemeinde, in der ich wohne, übermittelt. Diese wiederum sorgt dafür, dass die Beleuchtung repariert wird, da dies im Interesse aller ist, weil dadurch gesellschaftliche Kosten in Zusammenhang mit schlechter Gesundheit vermieden werden können.

Wie steht es mit Datenschutz und Privatsphäre, wenn wir 24 Stunden am Tag und sieben Tage in der Woche überwacht werden?

Wenn wir auf transparente Weise erklären können, dass die Menschen durch die Übermittlung von Echtzeitdaten an das Gesundheitswesen profitieren können, werden sie diese Daten mit Freude preisgeben. Um Ihnen ein Beispiel zu nennen: Wenn Sie auf bestimmte Substanzen allergisch sind, würden Sie es nicht zu schätzen wissen, wenn man Sie davor warnt, gewisse Gebiete aufzusuchen, weil Sie dort mit Atembeschwerden zu kämpfen hätten? Muss ich also etwas dafür geben? Ja, natürlich. Aber erhalte ich dafür eine Gegenleistung? Ja klar, und wie: Daten führen zu Informationen, Informationen führen zu Wissen, Wissen führt zu Freiheit und Freiheit führt zu Antizipation.

Medizinische Behandlungen erfolgen heutzutage so ziemlich nach dem «One-Size-Fits-All»-Ansatz. Die Digitalisierung verspricht eine stärker personalisierte und prädiktivere Medizin. Aber was ist mit den Kosten?

Pro CHF 100 Krankenkassenprämien, die wir heute bezahlen, werden fast CHF 90 in den letzten zwei Lebensjahren ausgegeben. Durch die Digitalisierung können wir diese Quote auf den Kopf stellen. Lassen Sie mich dies anhand eines Beispiels erklären: Ich habe Diabetes. Meine Nieren werden schlussendlich versagen. Ich werde regelmässig ein Dialysegerät in Anspruch nehmen müssen und wenn dies nicht mehr funktioniert, ist eine Nierentransplantation unausweichlich. Und ich werde dabei auch noch erblinden. Wenn wir also vorhersehen können, dass ich ein Kandidat für Diabetes bin, und mich dazu bringen können, mein Verhalten rechtzeitig zu ändern, meine Ernährung anzupassen und mehr zu trainieren, wird der Preis dafür nur ein paar Apps und ein paar Tools zur Verhaltensänderung sein. Prävention kostet fast nichts. Und das Ganze wird differenzierter und effizienter, weil wir dank Technologie die Möglichkeit haben, unsere Patienten wirklich zu kennen.  Wenn ich vor 60 Jahren einen Bluttumor hatte, hatte ich ein Krankheitsbild. Heute wissen wir dank der im Bereich Gesundheitstechnologie erzielten Fortschritte wie Genomik und DNA-Sequenzierung mehr über unsere Biologie als je zuvor. Wir wissen heute, dass ein Bluttumor 100 verschiedene Krankheiten als Ursache haben kann, die allesamt über spezifische Merkmale verfügen sowie durch personalisierte und individuell zusammengestellte Therapien behandelt werden können, bevor die Erkrankung auftritt.

Welche Rolle spielt die Pharmaindustrie in einer Welt, in der niemand mehr krank wird?

Sie wird damit beschäftigt sein, Behandlungen zu entwickeln, die anstatt auf die Behandlung von Patienten darauf abzielen, dass die Menschen gar nicht erst zu Patienten werden. Und dafür muss die Pharmaindustrie nicht nur Medikamente, sondern auf Basis von Daten aus dem Alltag der Patienten auch digitale Tools entwickeln, die zum Ziel haben, dass die Kunden gesund bleiben. Aber nicht nur die Pharmaunternehmen müssen ihr Geschäftsmodell anpassen: Langsam wird sich jeder Akteur – von den Versicherungsunternehmen bis zu den Banken – an dieser neuen Welt des digitalisierten Gesundheitssystems beteiligen müssen. Telekommunikationsunternehmen werden eine massgebliche Rolle beim Vorantreiben dieser Änderungen spielen.

Was wird diese Rolle denn sein?

Sie werden eine Schlüsselrolle beim Aufbau einer Infrastruktur spielen, die ein Umfeld ermöglicht, in dem eine unsichtbare Technologieschicht zum Standard wird und Daten auf vertrauenswürdige Weise ausgetauscht werden können. Dies wird eine Welt sein, in der wir nicht moralisieren oder den Menschen damit in den Ohren liegen werden, was sie tun oder nicht tun sollen, um gesund zu bleiben. Stattdessen werden wir das Verhalten der Menschen beeinflussen und ihnen gleichzeitig angenehme Erfahrungen bieten können. Beispielsweise vergessen ältere Menschen oft, Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Diesen einfach ein Pflaster zum Messen der Flüssigkeitszufuhr aufzukleben, reicht nicht aus. Ein echter Unterschied kann erzielt werden, wenn diesem Pflaster eine elektronische Komponente hinzugefügt wird, damit es mit dem TV-Gerät kommunizieren kann, das wiederum die betroffene Person daran erinnert, Flüssigkeit zu sich zu nehmen. Dafür brauchen wir das Internet der Dinge, das Datenerfassungsgeräte untereinander und mit dem Internet verbindet. Das Ziel dabei ist es, besser zu verstehen, welche Behandlungen die Menschen benötigen.

Das Schweizer Gesundheitssystem von heute basiert auf Solidarität. Wird ein System, das auf der Erfassung des individuellen Verhaltens – und somit auf der Eigenverantwortung – basiert, dieses Prinzip nicht in Frage stellen?

Sie haben sicher davon gehört, dass China plant, ein umfassendes Überwachungssystem einzuführen, das jeden einzelnen der 22 Millionen Bürger von Peking überwachen und bewerten wird. Wir in Europa sind noch nicht soweit, aber das Solidaritätsprinzip wird nicht für immer funktionieren. Es wird kein Weg an gewissen Verpflichtungen vorbeiführen. Können Sie sich daran erinnern, als das Tragen von Gurten im Auto obligatorisch wurde? Anfänglich wurde beklagt, dass dies einem Verlust der Freiheit gleichkomme, aber durch die Massnahme konnte das Todesrisiko fast halbiert werden. In einem digitalisierten Gesundheitssystem wird die Freiheit ebenfalls auf gewisse Weise eingeschränkt sein. Andererseits werden sich Versicherungsunternehmen, auch wenn unsere Veranlagung für gewisse Erkrankungen bekannt ist, nicht weigern können, uns auf dieser Grundlage eine Versicherungsdeckung zu gewähren – sie würden Konkurs anmelden müssen, denn fast alle Menschen werden früher oder später gewisse Beschwerden entwickeln. Es ist also an der Zeit, die Menschen damit zu konfrontieren und ihnen zu erklären, dass das Konzept der Privatsphäre ein Trugschluss ist. Es ist an der Zeit, das Glas als halb voll zu betrachten sowie komplett neue Patientenmodelle und Konsumentenerfahrungen auf Basis des Vertrauens sowie des Wissens zu schaffen, dass das Bereitstellen unserer Daten uns alle gesünder und glücklicher machen und dafür sorgen wird, dass wir länger leben.

 

Ted Talk: Der Zugang zu unserem biologischen Code, unserem Genom, wird bald allgemein verfügbar werden. Aber was können, was wollen wir damit machen, wie sollen wir damit umgehen, und würden wir zu besseren Menschen....? Koen Kas über eine wahrscheinliche Zukunft.

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 

 cdh, 06.12.2018

Koen Kas

Koen Kasis, Zukunftsforscher, Unternehmer, Professor für molekulare Onkologie, internationaler Key-Note-Speaker sowie Autor von «Sick no more» und «Your guide to Delight». Sein Ziel ist es, das Gesundheitswesen zu revolutionieren und Gesundheitsdienstleistern zu helfen, sich auf zukünftige Realitäten vorzubereiten. Er kombiniert seine Expertise in den Bereichen Genomik, Wirkstoffforschung und Biomarkerforschung mit seiner Expertise bei der Gestaltung von Digital Health-Unternehmen. Koen ist Vorsitzender der European Cancer Prevention Organisation; Botschafter des Health House; Jurymitglied des Prix Galien sowie Herausgeber der Zeitschriften mHealth und EJCP.

 

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