Von Paul Schneeberger
Die Digitalisierung, die Vernetzung und Automatisierung durch elektronische Datenverarbeitung, ist in aller Munde. Auch und gerade, was die Mobilität angeht. Landauf, landab werden grosse Ziele formuliert. Aus verschiedenen, nebeneinander agierenden Verkehrsträgern soll ein Mobilitätssystem werden, das sich den Kunden als Dienstleistung aus einer Hand präsentiert.
Ein Mobilitätssystem, das Ortsveränderungen einfacher und verlässlicher macht. Auf der Strasse soll aus dem analogen Hintereinander und Nebeneinander von Fahrzeugen stufenweise ein digitales Miteinander werden. Und auf der Schiene sind die Züge daran, von Einheiten, die durch Blockabschnitte getrennt voneinander unterwegs sind, zu Teilen eines korrespondierenden grossen Ganzen zu werden, das mehr Kapazität und mehr Pünktlichkeit verspricht.
Kapazität des Eisenbahnnetzes markant erhöhen
Für die Dynamisierung des Eisenbahnbetriebs leistet die Schweizerische Südostbahn AG (SOB) Pionierarbeit. Sie ist Partnerin im Branchenprogramm «smartrail 4.0», mit dem die schweizerischen Eisenbahnunternehmen die neusten Errungenschaften bei der Übermittlung und Verarbeitung von Daten Hand in Hand und Schritt für Schritt für ihren Betrieb fruchtbar machen wollen. Ziel der Bahnen ist es, auf diese Weise die Kapazität, die Stabilität sowie die Sicherheit des Betriebs auf dem Schienennetz weiter zu erhöhen und die Systemkosten der Bahnproduktion stark zu reduzieren. Die SOB engagiert sich im Teilprogramm «Automatic Train Operation» (ATO). Dieses zielt darauf ab, auszuloten, wie das Fahren von Zügen automatisiert werden kann. Die Frage, welche die SOB in den kommenden Jahren beantworten will, lautet: Lässt sich ein teilautomatisierter Bahnbetrieb mit einem vertretbaren Aufwand auch auf Linien mit Aussensignalen realisieren, die noch keine kontinuierliche Kommunikation zwischen Strecke und Fahrzeug kennen?
Dabei soll das Lokpersonal das Fahren und Beschleunigen, das Bremsen und Anhalten an ein Fahrassistenzsystem delegieren, das von seiner Funktion her mit dem Autopiloten im Flugzeug vergleichbar ist. Wie die Flugzeugpiloten können sie aber bei Bedarf jederzeit in die Steuerung eingreifen und diese selbst übernehmen. In jedem Fall ist und bleibt die Person ganz vorne im Zug für die Sicherheit des Zuges verantwortlich. Diese Form des Bahnbetriebs entspricht dem zweiten von vier Automatisierungsgraden, die der internationale Verband des öffentlichen Verkehrs UITP definiert hat. Dadurch soll der Energieverbrauch optimiert und die Fahrweise der einzelnen Züge noch präziser werden. Dieser Schritt ist die Voraussetzung für die angestrebte Integration aller Bahnlinien in das dynamische Gesamtsystem, zu dem die Eisenbahn werden soll.
In wenigen Jahren sollen die Züge in der Schweiz durch ein umfassendes Verkehrsmanagementsystem (TMS) gesteuert und koordiniert werden, das alle Schritte vom Entwurf des Fahrplans bis zur Steuerung des Bahnbetriebs einschliesst. Basis für die unmittelbaren betrieblichen Dispositionen sollen nicht nur die normativen Daten des Fahrplans sein, sondern auch die Abweichungen davon im realen Betrieb.
Die Geschwindigkeiten der Züge werden nicht mehr ausschliesslich von generellen Vorgaben bestimmt werden, sondern auch von Erfordernissen der aktuellen Betriebslage. Dadurch wird die Kapazität gesteigert. Anschlüsse können besser gesichert und Friktionen sowie Wartezeiten vor Fahrbahnkreuzungen oder an Ausweichstellen vermieden werden. Abgesehen davon, dass sich durchfortlaufend ermittelte Idealgeschwindigkeiten die Gleisanlagen optimal ausnützen lassen, ergibt sich aus dem dosierten Fahren auch ein geringerer Stromverbrauch.
Theorie in Praxis umsetzen
Perspektiven wie diese bleiben aber graue Theorie, wenn nicht auch geeignete Wege beschritten werden, um sie in den praktischen Alltag überzuführen. Damit ein komplexes System wie die Eisenbahn weiterentwickelt werden kann, bedarf es eines geeigneten Masses an Konkurrenz und Kooperation. Bei individuellen Tüfteleien allein fehlt der Blick aufs Ganze. Dann drohen wesentliche Komponenten des möglichen Fortschritts auf der Strecke zu bleiben, oder es ergeben sich teure Doppelspurigkeiten. Grosse, zentral gesteuerte Projekte laufen ihrerseits Gefahr, einzelnen Komponenten nicht das angemessene Gewicht einzuräumen und zu Maschinen zu verkommen, die vor allem sich selbst am Laufen halten. Die schweizerischen Eisenbahnunternehmen sind überzeugt, mit ihrer Zusammenarbeit in einem aus verschiedenen aufeinander abgestimmten Projekten bestehenden Programm «smartrail 4.0» einen Rahmen definiert zu haben, der dazu geeignet ist, den Fortschritt klug auf die Schienen zu bringen.
Was für das ganze Programm gilt, gilt auch für seine einzelnen Projekte. Die SOB hat 2018 einen Wettbewerb ausgeschrieben und Anbieter und Entwickler von Bahntechnologien eingeladen, konzeptionell aufzuzeigen, mit welchen technischen Lösungen und welchem finanziellen Aufwand sich der angestrebte teilautomatisierte Bahnbetrieb auf Linien mit stationären Signalen realisieren lässt. Im Dezember 2018 hat eine aus SOB-internen und externen Fachleuten bestehende Jury zwei von vier eingereichten konzeptionellen Varianten zur versuchsweisen Umsetzung empfohlen. Sie werden in den Jahren 2020 und 2021 in drei Etappen auf dem SOB-Netz praktisch getestet. Als Erstes werden Fahrzeuge mit den dafür notwendigen Einrichtungen eingesetzt – zuerst nach Betriebsschluss in der Nacht, dann auch am Tag integriert in den laufenden Bahnbetrieb, aber noch ohne Passagiere. Schliesslich wird das Fahren mit Autopilot im fahrplanmässigen Betrieb mit Reisenden erprobt. Diese Versuche sollen nicht nur Aufschluss geben über die praktische Anwendbarkeit der vorliegenden Konzepte und die Funktionstüchtigkeit der Datenübermittlung sowie der Empfangsgeräte in den Fahrzeugen. Sie sollen auch Fragen klären, die sich nur in der Praxis abschliessend beantworten lassen: In welcher Kadenz sind die übermittelten Daten auf die Beschleunigungs- und Bremsvorgänge der Züge zu übertragen, damit sich ein guter Fahrkomfort erreichen lässt? Wie geht das Lokpersonal mit der Veränderung seines Berufs um? Oder wie lassen sich Witterungseinflüsse in den Griff bekommen, zum Beispiel Nässe und Laub auf den Schienen? Ob sich in den Tests eines der Konzepte als beste Lösung durchsetzen wird oder ob aus den Versuchen eine Synthese aus verschiedenen Ansätzen resultieren wird, ist offen. Eines aber ist sicher: Ende 2021 wird die SOB Aufschluss darüber geschaffen haben, ob sich der Eisenbahnbetrieb ohne teuren Umbau seiner Signalisierungs- und Sicherungsanlagen zu grossen Teilen automatisieren lässt. Eine positive Antwort auf diese Frage ist eine erste Voraussetzung dafür, dass dereinst Züge auf dem schweizerischen Eisenbahnnetz durch massgeschneiderte elektronische Datenverarbeitung mit dem Verkehrsmanagemensystem korrespondieren können. Und damit auch dafür, dass die statische Eisenbahn aus dem 20. Jahrhundert in Etappen in die dynamische Eisenbahn transformiert werden kann, die dem 21. Jahrhundert angemessen ist.
smartrail 4.0
Das vom Bundesamt für Verkehr angeregte und von den schweizerischen Eisenbahnunternehmen (SBB, BLS, SOB, RhB und TPF) und dem Verband öffentlicher Verkehr (VöV) lancierte Programm «smartrail 4.0» zielt darauf ab, die Leistungsfähigkeit des schweizerischen Bahnsystems bis 2040 zu erhöhen. Wesentliche Elemente sind die Zusammenführung der bestehenden Planungs- und Steuerungselemente in einem neuen Verkehrsmanagementsystem TMS (Traffic Management System), die Bereiche Stellwerke, Leittechnik, Lokalisierung, Aussenanlagen, Datenfunk und ein automatisierter Fahrbetrieb (ATO). Dadurch soll die Kapazität des schweizerischen Eisenbahnnetzes um 15 bis 30 Prozent gesteigert werden. Parallel dazu soll die Verfügbarkeit der Sicherungsanlagen und die Sicherheit des Bahnbetriebs erhöht werden. Dabei wird eine Reduktion der Gesamtkosten der Eisenbahn in der Schweiz um jährlich 450 Millionen Franken ab 2040 prognostiziert. Für die Finanzierungsperiode 2017 bis 2020 hat der Bund Investitionen von 200 Millionen in «smartrail 4.0» bewilligt, 16 Millionen davon fliessen in das Projekt der SOB.
www.smartrail40.ch
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Epochal wie die Elektrifizierung
Die Digitalisierung ist nicht das erste epochale Projekt, das dazu angetan ist, die Effizienz des Systems Eisenbahn substanziell zu erhöhen, ohne dass neue Strecken gebaut werden müssen. In vergleichbaren Dimensionen bewegte sich im 20. Jahrhundert die Elektrifizierung. Bevor das ganze schweizerische Eisenbahnnetz zwischen 1913 und 1960 in mehreren Etappen mit dem bis heute gebräuchlichen Einphasen-Wechselstromsystem (Spannung: 15000 Volt; Frequenz: 16 2/3 Hertz) elektrifiziert wurde, gaben Versuche und praktische Anwendungen von Industrie und Bahngesellschaften Aufschluss über die Vor- und Nachteile verschiedener Arten des Stroms und seiner Übermittlung von den Kraftwerken in die Fahrzeuge. Eine Erhebung der SBB im Jahr 1958 ergab, dass die Betriebskosten für dieselbe Betriebsleistung durch den elektrischen Betrieb gegenüber dem Dampfbetrieb um zwei Drittel gesenkt werden konnten. Oder andersherum: Eine elektrische Lokomotive erbringt bei gleichem Gewicht und Volumen mehr als die doppelte Leistung einer Dampflokomotive.
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Dieser Text erscheint mit freundlicher Genehmigung der Schweizerischen Südostbahn AG (SOB). Er wurde erstmals im SOB-Geschäftsbericht 2018 veröffentlicht.