Die zweite Halbzeit gewinnen

 

Die erste Halbzeit der Digitalisierung, sagt Swisscom-Chef Urs Schäppi, hat Europa gegen die USA verloren. Was braucht es nun, um den Rest des Spiels doch noch für sich zu entscheiden?

(cdh) – Die Feststellung ist ein bisschen bitter: Die Impulse in der Digitalisierung kommen nicht aus Europa und schon gar nicht aus der Schweiz. Dabei wären die Voraussetzungen eigentlich gegeben und sie heissen nicht zuletzt: eine der wettbewerbsfähigsten Volkswirtschaften, ein ausgezeichnetes Bildungssystem und  hochinnovative Forschung. Und doch, wo hapert es? Beim Mindset, meint Urs Schaeppi und das sei, wo es primär um Transformation gehe, ein nicht zu unterschätzender Faktor. 

Wir leben in einer total vernetzten Welt. 2025 wird jede Schweizerin und jeder Schweizer über rund 3000 kommunizierende Gegenstände verfügen, die ihr oder ihm den Alltag erleichtern oder verbessern. Bereits heute ist die Verschmelzung der verschiedenen On- und Offline-Kanäle weit fortgeschritten. Studien belegen beispielsweise, dass eine Mehrheit der Kunden Multi-Channel-Shopping fordern und sich sehr gezielt den geeigneten Kanal für ihre jeweiligen Anforderungen aussuchen. Die Digitalisierung krempelt Businessmodelle um, berühmtestes Beispiel ist wohl Airbnb, die grösste Hotelkette der Welt, die kein einziges Hotelbett besitzt und doch täglich 250'000 Übernachtungen verkauft. Dafür genügen eine Plattform, eine App und das hocheffiziente Prinzip der Sharing Economy, die auf dem gezielten Vermitteln von unproduktiven, aber nachgefragten Vermögenswerten basiert. Das gleiche funktioniert, Uber ist ein Paradebeispiel dafür, auch beim Autofahren prächtig und wird sich in Zukunft nicht allein auf das Taxigewerbe beschränken: die Mehrheit der "Fahrzeuge" sind in Tat und Wahrheit die weitaus meiste Zeit nichts weiter als "Stehzeuge", die Mehrheit der Autofahrer in ihren Fahrzeugen meist ganz allein unterwegs. Ein Ressourcenverschleiss, der geradezu nach einer intelligent gemanagten geteilten Nutzung schreit. Solche substantiell veränderten Businessmodelle, meinte Schaeppi, würden bald alle Branchen aufmischen.

Keine Angst vor massivem Jobverlust

Eine zweites Merkmal der Digitalisierung sind für Schaeppi die personalisierten Kundenerlebnisse – wie sie beispielsweise Swisscom TV bietet, das dem TV-Publikum auf Basis seines Nutzungsverhaltens Filmempfehlungen macht. Personalisierte Produkte würden in Zukunft eine immer grössere Rolle spielen. Aber nicht nur Objekte und Daten, auch Prozesse vernetzen sich und werden digitalisieret – auch hier mit tiefgreifenden Auswirkungen: Automatisierung und softwarebasierte Businessmodelle, wie etwa der 3-D-Druck bzw. additive Fertigungsverfahren, könnten die Rückverlagerung der Produktion in ein Hochlohnland wie die Schweiz mit sich bringen. Dass Automatisierung gleichzeitig auch rund die Hälfte der Arbeitsplätze vernichten und so zu einer hohen Arbeitslosigkeit führen werde, glaubt Urs Schaeppi hingegen nicht. Jede industrielle Revolution bringe zwar den Abbau einer gewissen Anzahl von überflüssig gewordenen Arbeitsstellen mit sich, gleichzeitig entstünden dadurch aber jeweils auch eine Vielzahl von neuartigen Jobprofilen. Denn auf Arbeitsweisen wirke die Digitalisierung besonders stark. Die Wertschöpfung werde in Zukunft nicht mehr auf Konzerne beschränkt sein, sondern durch sehr viel heterogenere Systeme ersetzt werden, in denen nicht zuletzt der "Prosumer", d.h. der "mitarbeitende Kunde" eine immer grössere Rolle spielen wird.

All diese Veränderungen stellen Unternehmen vor harte Entscheide: "Es gibt nichts schwierigeres als sich selber zu kannibalisieren", umschreibt Urs Schaeppi die Notwendigkeit, auf disruptive Entwicklungen angemessen zu reagieren. Das Mahnmal eines Unternehmens, das es verpasst hat, eine konsequente Digitalisierungsstrategie auch um den Preis der eigenen Kannibalisierung zu verfolgen, ist Kodak: der Filmhersteller, der die digitale Fotografie erfand, selber aber nie verfolgte, war einmal ein Riese. Heute ist er keinem Kind mehr ein Begriff. 

Die Studie «Die digitale Zukunft der Schweiz – Fakten, Herausforderungen und Handlungsempfehlungen», durchgeführt von der EPFL im Auftrag von SIX und Swisscom, zeigt im Detail auf, wo und welche Weichen die Schweiz stellen muss, damit sie bei der digitalen Transformation ganz vorne mit dabei ist.

 

Glokale Konkurrenz

Die Digitalisierung verändert auch das Umfeld: Wettbewerb und Konkurrenz sind gleichzeitig lokal und global: So sind die stärksten Konkurrenten im Messaging-Bereich für Swisscom nicht die lokalen Mitstreiter, sondern WhatsApp, ein aufstrebendes junges Unternehmen aus dem Silicon Valley. Auch einem kleinen Schweizer Start-up, heisst das umgekehrt, steht der ganze Weltmarkt offen. Doch diese Aussicht allein allein genügt nicht. Für Urs Schaeppi gibt es ganz konkrete Voraussetzungen, die ein Land treffen kann, um den Match um die Digitalisierung für sich zu entscheiden. Dazu gehören: 

  • ein regulatorisches Umfeld, das Infrastrukturwettbewerb weiterhin zulässt. Nur weil ein solcher Wettbewerb bisher stattfinden konnte, sei die Schweiz heute das Land mit der höchsten Investitionsrate pro Kopf im Telekombereich.
  • eine Mobilfunkregulierung, welche die Time to Market nicht unnötig verlängert
  • eine gute Balance zwischen Privacy, Persönlichkeits- und Datenschutz auf der einen und Innovationskraft auf der anderen Seite
  • gleichlange regulatorische Spiesse für Schweizer und internationale Anbieter
  • ein start-up-affines Umfeld, bessere Finanzierungsmöglichkeiten und angepasste Steuergesetzgebung für Jungunternehmen
  • und weil die Digitalisierung als Plattformwirtschaft ein geeignetes Ökosystem voraussetzte:  interdisziplinäre Zusammenarbeit verschiedener (lokaler) Branchen; ein vorwärtsschauendes Mindset und eine bessere Fehlerkultur

Ganz im Sinn und Geist dieses Plattformgedankens kündet Schaeppi schliesslich an, dass Swisscom mit Ericsson und der EPFL zusammenspannen, um die Entwicklung von 5G voranzutreiben und 5G-Anwendungsmöglichkeiten (wie Smart Grids, intelligente Mobilität oder E-Health) zu testen: "5G for Switzerland", heisst das Kooperationsprogramm. 

 

Urs SchaeppiSwisscom

Urs Schaeppi, profunder Branchenkenner mit langjähriger Erfahrung, steht seit drei Jahren an der Spitze des grössten Schweizer Telekomkonzerns.