Acht Missverständnisse über die Blockchain

Blockchains haben etwas Magisches an sich. Sie regen allerorts Phantasien an bis hin zu Visionen einer neuen Weltordnung. Gleichzeitig gibt es kaum ein Thema, das so viel von Hype und Ignoranz begleitet wird. Auch seriösen Medien gelingt es nur teilweise, die Potenziale dieser sagenumwobenen und noch sehr jungen Technologie treffend darzustellen.

Ich habe einen Versuch gewagt, die kleinen und ganz grossen Fragen zu beantworten, die rund um Blockchain am häufigsten für Missverständnisse sorgen. Hier also einige der typischen Fragen und Missverständnisse, denen wir dabei begegnen:

Missverständnis 1: Blockchain ist Bitcoin

Nein, das stimmt natürlich nicht, denn eine Blockchain ist wie ein Kontobuch, und Bitcoins sind wie die Euros, die darauf liegen. Allerdings kann man in dem Buchführungssystem Blockchain noch viel mehr machen, als Geld von A nach B zu übertragen. Eine Transaktion mittels einer Blockchain kann neben Geld auch den koreanischen Friedensvertrag enthalten, virtuelle Kätzchen oder vielleicht etwas sinnvollere Dinge wie Klimarisikoversicherungen, die auch deutschen Bauern durch diesen trockenen Sommer helfen könnten.

Statt von Blockchains sprechen wir unter Nerds eigentlich lieber von Distributed Ledger Technologies (DLT), denn darin kommt zum Ausdruck, was das System so besonders macht: Während eine herkömmliche Datenbanklösung zentral arbeitet und so eigentlich auch sehr gut Transaktionen verwalten kann, ist eine DLT verteilt, das bedeutet, es gibt keinen zentralen Administrator, der zum Beispiel die Macht hat, die Bücher zu fälschen. Stattdessen gibt es ein Konsensprotokoll mit finanziellen Anreizen, die dafür sorgen, dass die ganze Sache trotz der verteilten Architektur zusammenhält. Neben Blockchains gibt es auch eine Reihe anderer Technologien wie zum Beispiel Hashgraphs oder DAGs, die versprechen, ähnliches zu leisten. Manche sind etwas weniger dezentral und dafür etwas besser skalierbar. Nicht selten findet man auch komplett zentralisierte Lösungen, die eigentlich de facto Datenbankanwendungen sind und eher aus Marketinggründen als Blockchain bezeichnet werden.

Missverständnis 2: Blockchain ist eine Ideologie

Ein Meinungsartikel von Michael Seemann in der taz beschreibt die Blockchain-Technologie als eine Ideologie. Und da hat Michael Seeman auch ein kleines bisschen Recht. Auf den zahlreichen Blockchain-Konferenzen kann dieser Eindruck entstehen, denn dort findet man Evangelisten, Liberalisten, Showmaster und Visionäre, die in der Community einen regelrechten Guru-Status erlangt haben. Aber anders als in einer Sekte ist das Spektrum der Meinungen sehr vielfältig. Wenn man eine Gemeinsamkeit in der Ideologie erkennen möchte, dann fällt mir dazu am ehesten dieser Punkt aus der Hacker-Ethik ein: «Misstraue Autoritäten, fördere Dezentralisierung».

Der Traum der Erfinder des Internets, dass ein wahrhaft dezentrales Netz entstehe, ist weitgehend gescheitert, unter anderem deshalb, weil werbefinanzierte Geschäftsmodelle, Datensammlungen und Netzwerkeffekte grosse Milliardenunternehmen hervorgebracht haben. Die Crypto-Community möchte nun diesen Traum wiederbeleben: Mit dezentralen Zahlungssystemen und dezentralen Onlinediensten, sogenannten dApps, soll das Web 3.0 aufgebaut werden, in dem statt Datenkraken der Nutzer mit selbst-souveränen Kryptographielösungen der Herr seiner eigenen Daten bleiben soll. Diese Ideologie – wenn man sie so nennen möchte – braucht natürlich auch geeignete Technologie. Und da wird es schon etwas handfester, denn viele Millionen des Krypto-Reichtums werden in Softwareentwicklung investiert, um Blockchains skalierbar zu machen, deren Energieverbrauch zu senken, Anwendungen zu entwickeln, Identitätslösungen zu integrieren und auch – das ist lange überfällig – die User Experience zu verbessern.

Missverständnis 3: Daten in einer Blockchain sind immer korrekt

Bei Bitcoin funktioniert das Prinzip der Datenintegrität ganz gut, denn Transaktionen können anhand von digitalen Signaturen validiert werden, bevor sie in die Blockchain geschrieben werden. Daraus entsteht allerdings der weit verbreitete Irrglaube, dass Blockchains einen magischen Zaubertrick besitzen, um die Korrektheit beliebiger Datenbestände zu garantieren. Leider gilt bei Blockchains – wie anderswo auch – das GIGO-Prinzip: Garbage In, Garbage Out. Und je komplexer eine Blockchain-Anwendung ist und je unschärfer die Datenlage oder -qualität, desto schwieriger wird es, 100% korrekte Dinge in die Transaktionsliste zu schreiben. Ein Stück weit Abhilfe schafft Machine Learning. Auch bei ungenauen Ausgangsdaten kann der Algorithmus eindeutige Entscheidungen treffen und zum Beispiel Luftbilder vom Regenwald dahingehend auswerten, inwieweit eine Abholzung stattgefunden hat oder nicht.

Missverständnis 4: Blockchains kann man nicht regulieren

Man kann eine Blockchain zwar nicht anhalten, wenn man nicht gerade das gesamte Internet ausschaltet, dennoch sind Regulierer nicht ganz machtlos. China war das erste Land, das zur Umsetzung seiner Währungspolitik den Krypto-Börsen verboten hat, Yuan in Bitcoin zu wechseln, denn das wurde bis dato als Hintertür genutzt, um Yuan indirekt in Dollar umzutauschen. Auch bei Geldwäsche und illegalen Geschäfte sind Behörden nicht machtlos. Geschätzte 90 Prozent aller Besitzer von Bitcoin-Wallets können durch Verknüpfungen/Korrelationen mit anderen Datenbanken identifiziert werden. Es gibt einige Betrugsfälle rund um die Vermarktung und den Vertrieb neuer Krypto-Tokens, sogenannter Initial Coin Offerings, die strafrechtlich verfolgt werden. Schneeballsysteme, leere Versprechungen und der Verkauf nichtexistenter Kryptowährungen gehören dazu. Insgesamt verfolgt man in Europa aber eher eine innovationsfreundliche Linie. Die neuen Krypto-Hauptstädte Berlin, Amsterdam, Paris, Valetta und Zug freuen sich über internationalen Zulauf von Kapital und Talenten. Vielleicht folgen künftig noch weitere Länder dem Vorbild aus Singapur: Regulatorische «Sandkästen» werden hier als Ausnahmeregelungen geschaffen, um neue dezentrale Lösungen ausprobieren zu können, auch wenn sie nach geltendem Gesetz eigentlich gar nicht erlaubt wären.

Missverständnis 5: Blockchains brauchen viel Strom

Bitcoins verbrauchen momentan so viel Strom wie ganz Österreich, dies entspricht etwa 0,3 Prozent des weltweiten Stromverbrauches. Denn Blockchains sind Anreizmaschinen. Und die Bitcoin-Blockchain enthält einen starken Anreiz zum Stromverbrauch. Denn wer mit seiner Rechenpower am schnellsten eine komplizierte Formel löst, der gewinnt dadurch Bitcoin. Lösungen für deutlich weniger Stromverbrauch wie Proof of Stake, Sharding, u.a. gibt es schon, und sie werden von verschiedenen anderen Blockchains auch genutzt. Allerdings war der Stromfresser Bitcoin zuerst da und hat sich deshalb als eine Art «Resevekryptowährung» etabliert. Die Preisfrage ist nun: Was muss passieren, damit die Stromverschwendung von Bitcoins durch energiesparendere Architekturen abgelöst wird? Regierungen weltweit könnten helfen, indem sie aufhören, subventionierten Strom für Bitcoin zur Verfügung zu stellen und ausserdem stromsparenden Kryptowährungen Vorteile verschaffen, indem Behördenlösungen darauf implementiert werden und sie als Zahlungsmittel für Steuern und Gebühren akzeptiert werden.

Missverständnis 6: Meine Firma/Behörde braucht auch eine Blockchain

Der Mehrwert von Blockchain-Technologien gegenüber herkömmlichen Datenbanken liegt in der Dezentralisierung. Da wird also die Macht verlagert von einer zentralen Stelle an mehrere dezentrale Stellen. Das macht immer nur dann Sinn, wenn es tatsächlich einen guten Grund dafür gibt, warum man zentralen Stellen nicht uneingeschränkt vertrauen möchte.

Etwa ein Viertel der Internetwirtschaft besteht aus Transaktionsplattformen. Diese und andere Marktplätze neigen zur Monopolbildung und zu hohen Transaktionsgebühren. Sie verhalten sich auch sonst nicht immer im Interesse der Marktteilnehmer. Dezentrale Blockchain-Marktplätze handeln eher im Interesse der Marktteilnehmer, denn dort können diese ohne Mittelsmänner interagieren. Die meisten geschäftlichen Anwendungen, die sich Dezentralisierung zunutze machen, befinden sich noch im Erprobungsstadium.

Der öffentliche Sektor folgt einer anderen Logik. Da kann man sich die Ausgangsfrage stellen: Gibt es einen Grund, warum eine Regierung oder Verwaltung die Kontrolle über eine Datenbanklösung aus der Hand geben sollte? In Demokratien ist die Macht von Regierungen durch Verfassung, Institutionen und Gewaltenteilung eingeschränkt. Interessant sind also Blockchain-Anwendungen im Hinblick auf Transparenz und Partizipation etwa in der Finanzverwaltung und zwischen Behörden und Verwaltungsebenen, die verschiedene Ziele verfolgen. Aber auch unterschiedliche Interessen zwischen Staaten kann man adressieren. So kann eine Blockchain-Lösung dazu dienen, zwischenstaatliche Vereinbarungen umzusetzen, zum Beispiel in der Handels- oder Klimapolitik, denn zwischen Staaten gibt es naturgemäss keine souveräne zentrale Stelle die uneingeschränktes Vertrauen geniesst.

Missverständnis 7: Blockchains lösen alle Probleme der Welt

Vieles ist auf Blockchain denkbar, aber es gibt auch Grenzen. In Sapiens – Eine Kurze Geschichte der Menschheit beschreibt Yuval Harari, wie die Menschen als einziger Primat in der Lage waren, in Gemeinschaften von mehr als 150 Individuen zu leben — so hoch ist die Dunbar-Zahl. Homo Sapiens hat das geschafft, indem er Mythen, Religionen, und später Institutionen, Staaten, Firmen und auch Aktiengesellschaften geschaffen hat, mit denen Regeln des sozialen und wirtschaftlichen Miteinanders durchgesetzt wurden. Blockchains schaffen eine neue dezentrale Infrastruktur für vertrauenswürdige Transaktionen zwischen vielen Tausenden oder Millionen von Individuen. So wird das Vertrauen in zentralisierte Institutionen oder Firmen ersetzt durch das Vertrauen in die Blockchain, das auf Spieltheorie und Anreizsysteme der Krypto-Tokens beruht.

Der Phantasie sind also fast keine Grenzen gesetzt, welche neuen Formen der Zusammenarbeit zwischen Menschen oder auch Maschinen sich mithilfe von Anreizen und Spieltheorie entwickeln lassen. So entstehen bei den Vordenkern des Token Engineering zahlreiche neue Lösungsansätze. Die Grenzen: Der Mensch verhält sich nicht immer rational, und so können wirtschaftliche Anreize ungeeignet sein — diese Grenzen erforscht man in Behavioral Cryptoeconomics. Ausserdem: In der Kryptoökonomik ist alles freiwillig, sie kennt keinen Zwang. Und ganz ohne Zwang lassen sich vielleicht doch nicht alle Probleme der Welt lösen. Mehr dazu im nächsten Punkt.

Missverständnis 8: Blockchains machen Staaten überflüssig

Die Gründerin von BitnationSusanne Tempelhof, glaubt daran, alle Aspekte des Zusammenlebens mit Hilfe von Blockchain und Smart Contracts dezentral, ohne Institutionen und basierend auf Freiwilligkeit lösen zu können und damit bis 2050 staatliches Handeln irrelevant zu machen. Solche libertären Gedanken haben zweifellos ihren Charme, aber kann gesellschaftliches Zusammenleben komplett ohne Zentralisierung, Institutionalisierung und Zwang funktionieren? Womöglich sind viele staatliche Funktionen dezentralisierbar, aber wenn ich an einige Kernfunktionen eines Staates, zum Beispiel das Gewaltmonopol denke, dann erzielt dieser institutionalisierte, zentralisierte Zwang einen wichtigen Mehrwert, denn dort auf
der Welt, wo das Gewaltmonopol nicht funktioniert, füllen häufig rivalisierende Warlords oder Mafiagruppierungen dieses Machtvakuum. Auch andere Funktionen des Gemeinwohls lassen sich nicht kryptoökonomisch lösen. Zum Beispiel soziale Umverteilung: Es gibt weltweit eigentlich keine guten Beispiele von rein freiwilligen, also philanthropisch finanzierten Sozialwesen. Funktionierende Sozialsysteme basieren auf einem Zwang, in Steuern oder andere Solidarsysteme einzuzahlen. Das kann eine auf Freiwilligkeit beruhende Blockchain nicht.

Und wie geht’s weiter?

Blockchain-Innovationen geben uns immer wieder Anlass, neu über zentrale Institutionen und deren Funktionen nachzudenken. Das kann der Ausgangspunkt für wichtige politische Reformen sein. Gerade dort auf der Welt, wo Institutionen und Gesetze scheitern, kann die Dezentralisierungstechnologie Blockchain einen grossen Mehrwert entfalten. Könnte etwa die Zentralbank von Zimbabwe das Vertrauen in ihre Währungspolitik zurückgewinnen, indem die Geldmenge von Kryptoökonomik statt von Politik bestimmt würde? Kann man korrupte Gesundheitssysteme reformieren, indem die Geldflüsse der Haushaltsmittel auf einer öffentlichen Blockchain nachvollziehbar gemacht werden? Können mehr Menschen in Subsahara-Afrika mit Strom durch ein Stromnetz versorgt werden, das dezentral mit Blockchain-Anreizen, Smart Meter, Solarpanels und Batterien von Kleinunternehmen ausgebaut wird, anstatt von einem monopolistischen Stromunternehmen? Kann staatlich finanzierter Journalismus unabhängig werden, indem eine dezentral kuratierte Kryptolösung das Geld verteilt anstelle einer staatlichen Stelle? Können wir eines Tages die Internetmonopole und Datenkraken durch dApps ersetzen?

Viele dieser Ideen stehen erst am Anfang. Wir dürfen uns nicht vom Blockchain-Hype blenden lassen und brauchen nüchterne Analysen dessen, was wirklich möglich ist. Aber gleichzeitig müssen wir uns für Innovation öffnen. Dafür sind tiefe Gräben zwischen Ideologien zu überwinden. Eine staatsfeindliche Ideologie der Krypto-Libertären ist genauso wenig hilfreich wie eine Ideologie, die immer am Status Quo von Institutionen und wirtschaftlichen Platzhirschen festhalten möchte.

«Form follows Function» war das Prinzip der Bauhaus-Architekten. Wenn wir nun die Blockchain als neues Baumaterial unseres Wirtschafts- und Gesellschaftsgebäudes haben, dann werden womöglich einige Strukturmerkmale in diesem Gebäude eine neue Form annehmen.

 

Mit freundlicher Genehmigung von Netzpolitik.org, wo dieser Gastbeitrag am 27.8.18 ursprünglich erschienen ist.

Franz von Weizsäcker

Franz von Weizsäcker ist Leiter des Blockchain Lab der Gesellschaft für Internationale Zusammenarbeit (GIZ) Berlin.